Orientierung

Die Fähigkeit zur Orientierung ist eine komplexe Leistung des menschlichen Gehirns. Im Alter lässt sie meistens nach, und im Verlauf einer demenziellen Erkrankung geht sie immer mehr verloren.

Das Wort Orientierung leitet sich vom lateinischen Begriff für Osten – oriens – ab, der Richtung der aufgehenden Sonne. Mit mentaler Orientierung ist die kognitive Fähigkeit einer Person gemeint, sich in einer zeitlichen, örtlichen, persönlichen und situativen Gegebenheit zurechtzufinden.

  • Zur zeitlichen Orientierung gehören Zeitgefühl, Zeitsinn und die Fähigkeit zu erkennen, ob etwas gleichzeitig oder nacheinander geschieht.
  • Die räumliche Orientierung betrifft die Fähigkeit, sich bezüglich einer Richtung oder eines Ziels zurechtzufinden und angemessen zu bewegen.
  • Mit der situativen Orientierung ist das Bewusstsein einer Situation gemeint. 
  • Unter personeller Orientierung verstehen wir das Bewusstsein für die eigene Persönlichkeit.

Ein mental gesunder Mensch weiss, wer er ist und wo er sich befindet. Er kann einordnen, was um ihn herum geschieht und kennt das Datum, den Wochentag, die ungefähre Uhrzeit und die Jahreszeit. Die Fähigkeit zur Orientierung ist nur zum Teil angeboren. Säuglinge haben eine Wahrnehmung, aber noch keine vollständige Orientierung. Sie wird grösstenteils erst im Heranwachsen erlernt. Die kleinräumliche Orientierung etwa wird in den ersten Lebensjahren erworben; danach bildet sich die geografische Orientierung aus, die im Gedächtnis abgespeichert wird und zum allgemeinen Orientierungssinn beiträgt. Damit sich dieser Sinn entwickelt, muss er eingeübt und trainiert werden. 

Wenn sich Kinder zu wenig bewegen oder Erwachsene kaum auf ihre Umgebung achten, kann sich der Orientierungssinn zurückbilden. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn sich Menschen ausschliesslich mit Hilfe von Routenplanern und Navigationssystemen fortbewegen.

Grundlagen zur Orientierung

Welche Gehirnregionen exakt bei der Fähigkeit zur Orientierung einbezogen sind, ist noch nicht vollständig erforscht. Bei der Orientierung im Raum spielen wahrscheinlich ein Teil der Grosshirnrinde und ein Teil des Endhirns, der Hippocampus, eine wichtige Rolle. In diesen Hirnbereichen wurden bei Versuchen mit Ratten hoch spezialisierte Nervenzellen identifiziert, die wie eine Art GPS funktionieren. 

Dazu gehören Neuronen, die Geschwindigkeitsdaten verarbeiten und solche, die für die räumliche Position zuständig sind. Gemeinsam bauen sie nach und nach eine Art mentale Landkarte auf. Um ein Ziel zu finden, muss diese geistige Landkarte ständig mit Signalen der Sinnesorgane, etwa den Augen oder dem Gleichgewichtssinn, abgeglichen werden. Studien geben Hinweise darauf, dass dieses innere Navigationssystem auch beim Menschen vorhanden ist. 

Beim Zeitsinn sind vermutlich auch der Hippocampus und die Grosshirnrinde beteiligt, er scheint eng mit dem Raumsinn zusammenzuhängen. Die Identitätsorientierung, also das Selbstgefühl, ist wissenschaftlich noch nicht geklärt. Eine wichtige Rolle dabei dürfte aber das Gedächtnis spielen, denn wenn das Erinnerungsvermögen gestört ist, verringert sich auch die Bewusstheit der Identität.

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Mögliche Orientierungsstörungen bei Demenz

Die für die räumliche Orientierung zuständigen Gehirnregionen gehören zu den ersten, deren Funktionen bei der Alzheimer-Demenz nachlassen. Deshalb gilt das orientierungslose Herumgehen als ein frühes Anzeichen für diese Erkrankung. Orientierungsstörungen sind auch für alle anderen Demenzformen symptomatisch. Dabei zeigen sich Einbussen oft zuerst in der zeitlichen, dann in der situativen und örtlichen und zuletzt in der persönlichen Orientierung.

  • Beim zeitlichen Orientierungsverlust haben die Betroffenen Schwierigkeiten, die Uhrzeit, das Datum oder eine Zeitspanne wahrzunehmen. Auch Wochen, Monate oder Jahreszeiten werden nicht mehr richtig erkannt.
  • Bei räumlichen Orientierungsstörungen finden die Menschen mit Demenz den Weg zu einem bestimmten Ziel nicht mehr, etwa die Toilette, das Schlafzimmer oder die eigene Wohnung. Auf Nachfrage können sie meist nicht sagen, wo sie sich befinden und in welcher Strasse sie leben. Auch suchen sie Gegenstände oft an völlig falschen Orten.
  • Ist die situative Orientierung gestört, versteht der Erkrankte das Verhalten seiner Mitmenschen oder die Bedeutung von Dingen nicht mehr. Zum Beispiel kann er die Tätigkeit anderer Menschen nicht mehr einordnen oder die Funktion von Gebrauchsgegenständen nicht mehr bestimmen. Oft wissen die Erkrankten auch nicht mehr, warum sie an einem bestimmten Ort sind.

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  • Bei der personellen Orientierungsstörung können die Betroffenen keine treffenden Aussagen mehr zu ihren biografischen Daten machen. Sie wissen nicht mehr, welchem Beruf sie nachgegangen sind oder wie viele Kinder sie haben. Mit fortschreitender Erkrankung erkennen Menschen mit Demenz ihre engsten Verwandten und selbst ihr eigenes Spiegelbild nicht mehr. 

Orientierungsstörungen sind für die Betroffenen oft sehr belastend, sie können Stress, Ängste und Aggressionen auslösen. Zudem steigern sie das Risiko, sich selbst und andere zu gefährden. Für das Wohlergehen der Betroffenen ist es deshalb wichtig, ihren Lebensraum so zu gestalten, dass ihre Selbstständigkeit trotz des Orientierungsverlusts weitgehend erhalten werden kann, zumindest bei beginnender Demenz. 

Dazu gehört zum Beispiel die Kennzeichnung von Räumen mit Piktogrammen oder Bildern. Auch die Verwendung von Kontrastfarben für Geländer, Türen oder elektrische Schalter verbessern die Orientierung, wichtig ist eine helle und möglichst schattenfreie Beleuchtung. Entscheidend aber ist immer, das Verhalten der Menschen mit Demenz zuzulassen und wertzuschätzen, damit sie sich trotz Orientierungsverlust nicht verloren fühlen.

Umgang mit Orientierungsstörungen bei Demenz

Zeitliche Orientierungsstörung: Routinen, Rituale und sich wiederholende Tagesabläufe helfen bei der Orientierung. Grosse Uhren, ein übersichtlicher Kalender an einem zentralen Ort in der Wohnung und angepinnte Notizen (Dienstag 15. Oktober, 10 Uhr Frisör etc.) können die zeitliche Orientierung verbessern. Sehr hilfreich kann ein gut programmiertes Tablet mit einem Kalender sein, das mit Tönen und Sprache an Termine erinnert. Wenn die Menschen im Umfeld informiert sind, können auch sie auf Termine und Abmachungen aufmerksam machen.

Räumliche Orientierungsstörung: Bei ersten Schwierigkeiten kann eine Hotline zu Angehörigen, Freunden und Bekannten hilfreich sein. So kann die erkrankte Person schnell jemanden erreichen, der telefonisch helfen kann. Noch effizienter funktioniert dies, wenn der angerufene Helfer mithilfe Ortung auf seinem Smartphone sieht, wohin sich die Person verirrt hat. So kann er genaue Anweisungen geben, wohin der Erkrankte gehen kann. Bei fortgeschrittenen Orientierungsstörungen ist es von Vorteil, wenn sich der Erkrankte in vertrauten Regionen aufhält. Spezielle GPS-Geräte (mit Rayon- und Warneinstellungen) können eine grosse Hilfe sein und viel zur Lebensqualität beitragen.

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Situative Orientierungsstörung: Das nicht konforme Verhalten ist häufig ein Grund dafür, dass sich Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Dies ist sehr schade und mindert die Lebensqualität. Ein offener Umgang mit der Krankheit macht vieles möglich. In der Regel reagieren andere Menschen verständnisvoll und unterstützend, wenn sie Bescheid wissen. Manche Angehörigen machen gute Erfahrungen mit Karten, die sie zum Beispiel in den ÖV an Mitreisende verteilen können. Begleitende Freunde (Buddies) können auch eine Hilfe sein. Hilfreich ist es auch, wenn man Ausflüge und Besorgungen auf Zeiten plant, in denen nicht viele andere Menschen unterwegs sind.

Personelle Orientierungsstörung: Es ist für die Angehörigen belastend, wenn der Erkrankte sie nicht mehr erkennt. Oder wenn er morgens um drei zur Arbeit will, obwohl er längst pensioniert ist. Wichtig ist in solchen Fällen ein verständnisvolles und empathisches Verhalten der Betreuenden. Vor allem im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit ist es nicht angebracht, wenn man den Erkrankten immer wieder mit der Realität und damit auch mit seinen Defiziten konfrontiert. Viel wirksamer ist in solchen Momenten ein validierendes Gespräch. Im Anfangsstadium kann es aber hilfreich sein, wenn man den Erkrankten oft mit Namen anspricht und ihm mit Fotoalben, Familienfilmen etc. personelle Orientierung gibt.

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> »Handbuch Demenz – Fachwissen für Pflege und Betreuung«, Ulrich Kastner u.a., Urban & Fischer, 2022

> »Dement, aber nicht bescheuert – Für einen neuen Umgang mit Demenzkranken«, Michael Schmieder, Uschi Entenmann, Ullstein, 2015

> »Validation – Ein Weg zum Verständnis verwirrter alter Menschen«, Naomi Feil, Vicki de Klerk-Rubin, Reinhardt, 2023

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