Realität

Menschen mit Demenz haben andere Wahrnehmungen und leben in einer eigenen Realität. Wir sollten empathisch sein und uns auf ihre Realität einlassen. 

Was ist Realität? Das ist viel schwerer zu beantworten als es der erste Impuls einen glauben lässt. Realität ist ein theoretisches Konstrukt, hinter dem teils sehr unterschiedliche wissenschaftliche wie philosophische Konzepte und Definitionen stehen. Auf welches können wir uns alle einigen? Der Medienethiker Thilo Hagendorff schreibt in einem Essay zur Realität folgendes: 

»Ein weit verbreitetes Konzept von Realität geht davon aus, dass es eine materielle Wirklichkeit gibt, die über die Sinne wahrgenommen und durch Vorstellungen und Sprache abgebildet werden kann. Auf dieses Wirklichkeitskonzept beziehen wir uns meist, wenn wir im Alltag über Realität sprechen: Realität ist das, was beobachtet und gemessen werden kann, was durch faktisch belegbares Wissen zum Ausdruck gebracht wird, was als objektive Aussenwelt existiert und nicht beliebig ausfallen kann. Es gibt also im Alltag durchaus eine grobe Übereinkunft darüber, was Realität sein könnte.«

Mit der Diagnose Demenz wird diese grobe Übereinkunft dessen, was wir unter Realität verstehen, jedoch brüchig. Denn für Betroffene sieht die Realität anders aus als für Gesunde. Sie beobachten andere Dinge, die objektive Aussenwelt stellt sich für sie anders dar. Niemand weiss, was im Kopf eines an Demenz erkrankten Menschen vor sich geht. Auch wenn sich im Anfangsstadium der Krankheit die Betroffenen noch selbst mitteilen können: Typisch für eine Demenz ist bereits von Beginn an eine verminderte Krankheitswahrnehmung. Seine Realität ist eine andere als die seines Umfelds. Dieser Konflikt führt leicht zu einer Verunsicherung des Betroffenen und zu aggressiven Reaktionen. 

Das Training der Realitätsorientierung (ROT)

Zu den frühen Realitätseinbussen bei Demenz gehört der Verlust des Gefühls für Tageszeit, Datum oder Jahr. Betroffene wissen oft nicht, wo sie sich befinden oder wer die Menschen in ihrer Umgebung sind. Im früheren und mittleren Stadium der Krankheit kann «Training der Realitätsorientierung» (ROT) helfen. ROT bietet Orientierungshilfen in drei Bereichen:

  • Soziale Orientierung: Angehörige und Pfleger erläutern bei Nachfrage immer wieder, wer sie selbst sind. Sie sprechen die oder den Erkrankten mit vollem Namen an und geben bei Bedarf Informationen zur Person des Erkrankten und zu Familienmitgliedern.
  • Zeitliche Orientierung: Dazu zählen Informationen zur Tageszeit und zum Datum, zu entsprechenden Mahlzeiten, der Jahreszeit, anstehenden Feiertagen oder Festlichkeiten. Digitaluhren mit grossen Ziffern und Tages- und Wochentaginformation helfen bei der Orientierung. Auch ein gut sichtbarer Kalender mit Einträgen wie Geburtstagen, Ausflügen, Besuchen etc. hilft.
  • Räumliche Orientierung: Hierunter fallen Informationen zur näheren Umgebung – Wohnung, Wohnviertel, einzelne Strassen oder Geschäfte, Wohnort. Auf Spaziergängen wird die Umgebung immer wieder aufs Neue erkundet und so erinnert.

Das Realitätstraining darf aber nicht zu intensiv betrieben werden, weil es den Betroffenen überfordern könnte. Vor allem im späteren Stadium der Krankheit macht es wenig Sinn, Menschen mit Demenz solche Informationen zu geben. Der Gerontopsychiater Christoph Held rät sogar davor ab, die Betroffenen mit Namen anzusprechen, da sie dies verunsichern würde.

In diesem Video referiert Vera F. Birkenbihl über Wahrnehmung und Realität

Quelle YouTube

Wahnvorstellungen und Halluzinationen bei Demenz

Realitätsverlust findet in mehreren Stufen statt: Typisch für Menschen im Anfangsstadium einer Demenz ist vor allem die Behauptung, dass sie jemand bestohlen hat. Im späteren Stadium wehren sich manche Betroffene gegen die Pflege oder verbauen den Zugang in ihr Zimmer. Der Grund ist oft ihre Überzeugung, dass ihnen jemand etwas antun will

Diese Erscheinungsformen, genannt Bestehlungswahn und Vergiftungswahn, sind typisch bei dementiell Erkrankungen mit paranoid-halluzinatorischem Syndrom. Eine andere Ebene der Realitätsverschiebung ist erreicht, wenn die Betroffenen Wahnvorstellungen oder Halluzinationen entwickeln. Mediziner sagen dazu «psychotisches Symptom»

Psychotische Symptome kommen bei Menschen mit Demenz häufig vor. Vier von zehn Alzheimer-Patienten leiden unter solchen Symptomen. Von diesen hat jeder dritte Wahnvorstellungen und jeder fünfte Halluzinationen. Hat jemand psychotische Symptome, hat er quasi einen Bezug zur Realität verloren. Er hört zum Beispiel Stimmen, obwohl keiner redet. Oder er sieht etwas, was gar nicht da ist, fühlt etwas auf der Haut, riecht etwas oder schmeckt etwas, obwohl ihn nichts berührt, keine Gerüche da sind oder er gar nichts im Mund hat. 

Psychotische Störungen bei Demenz

Manche haben das Gefühl, sie würden von jemandem kontrolliert, verfolgt oder bedroht oder sie seien das Ziel einer Verschwörung. Psychotische Symptome können sich auch darin äussern, dass die Betroffenen meinen, ihre Gedanken würden von aussen eingegeben, dass andere Menschen ihre Gedanken lesen oder ihr Verhalten steuern könnten. Das löst oft Angst aus.

Das Denken funktioniert bei psychotischen Störungen nicht mehr so wie früher. Die Betroffenen haben Mühe, ihr Denken zu strukturieren und einem roten Faden zu folgen. Das kann Aussenstehende ziemlich irritieren oder sie können den Betroffenen nicht mehr verstehen. Menschen mit psychotischen Störungen ziehen sich oft von ihrem Umfeld zurück, beschäftigen sich mit eigenen Ideen und leben in ihrer «eigenen Welt».

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Ein typisches Phänomen sind optische Halluzinationen bei einer Lewy-Körperchen-Demenz. In dieser Variante – die einen von 25 Demenz-Patienten trifft – schädigen Eiweissablagerungen im Gehirn die Nervenzellen und unterbrechen die Signale von Botenstoffen. Das Hirn kann dann Informationen nicht mehr richtig verarbeiten. Als eine Folge sehen die Betroffenen Menschen, Tiere oder Dinge, die es nicht gibt. Hier ist wichtig zu beobachten, ob die Trugbilder den Betroffenen Angst machen oder nicht.

Wenn die Halluzinationen behandlungsbedürftig sind, helfen atypische Neuroleptika. Klassische Neuroleptika dürfen Patienten mit Lewy-Körperchen-Demenz nicht bekommen, weil diese andere ihrer Symptome – die ähnlich sind wie bei Parkinson-Demenz – verschlechtern würden.

Wertschätzende Haltung und Validation

Als Fazit lässt sich sagen: Menschen mit Demenz leben in ihrer eigenen Realität, die oft nicht mit der Wirklichkeit ihres Umfeldes übereinstimmt. Der Verunsicherung, die daraus entsteht, lässt sich nicht beheben – auch wenn Angehörige und Pflegende das noch so gerne würden. 

Besser ist es, den Betroffenen mit einer wertschätzenden Haltung der Akzeptanz zu begegnen. Validation ist der Fachausdruck dafür. Validation bedeutet, das Verhalten von Menschen mit Demenz als für sie gültig zu akzeptieren (zu validieren). Es geht dabei nicht (mehr) darum, die oder den anderen zu korrigieren; vielmehr geht es darum, seine oder ihre Bedürfnisse zu verstehen. Für viele Betreuende und Angehörige ist das Akzeptieren von anderen Realitäten der wichtigste Schritt zum «guten» Umgang mit Menschen mit Demenz. 

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> Michael Schmieder, Uschi Entenmann; Dement, aber nicht bescheuert – Für einen neuen Umgang mit Demenzkranken, Ullstein, 2015

> Chris Clarke u.a., Positive Demenzpflege, Hogrefe, 2019

> Hier geht’s zu Vorschlägen zum einfühlendem, empathischen Umgang

> Was ist Realität? Hagendorffs Beitrag über Realität in Zeiten von Virtual Reality und Fake News

> Tipps zur Realitäts-Orientierung finden Sie hier

Quelle demenzjournal Marcus May/YouTube

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