Outing

Nicht selten schämen sich Menschen mit Demenz für ihre Defizite und ziehen sich zurück. Dabei kann ein offener Umgang die Lebensqualität verbessern.

In den Medien ist das Thema Demenz längst präsent, doch für die Betroffenen und auch für ihr privates Umfeld ist das Bekenntnis zu dieser Krankheit oft noch tabu. Die Angst, sich zu outen, ist gross: Weil die Betroffenen befürchten, dass sie nicht mehr für voll genommen werden, wenn ihre Erkrankung bekannt wird. Diese Angst ist nicht unberechtigt, denn laut dem Welt-Alzheimer-Report von 2019 haben weltweit fast 70 Prozent der Menschen mit Demenz die Erfahrung gemacht, dass sie nicht mehr ernst genommen werden. 38 Prozent werden wegen ihrer Erkrankung gemieden und 47 Prozent sogar verspottet. 

Aus psychologischer Sicht zählt der Schutz des Selbstbilds zu den menschlichen Grundbedürfnissen. Die Veränderungen, die Menschen mit Demenz zu Anfang ihrer Erkrankung an sich selbst erleben, erschüttern dieses Bild. Sie wissen, dass etwas nicht stimmt, wenn sie Termine vergessen, den Weg nach Hause nicht mehr finden oder die Hausschuhe in den Kühlschrank stellen. 

Das Selbstwertgefühl gerät bei Demenz unter Druck

Viele vermeiden zuerst, offen darüber zu sprechen, weil ihr Selbstwertgefühl durch solche Vorfälle stark unter Druck gerät. Deshalb zögern sie auch eine klärende Diagnose hinaus. Manchen gelingt es mit grosser Anstrengung, über längere Zeit gegenüber Angehörigen und Bekannten eine Fassade der Normalität aufrecht zu erhalten. 

Doch je schwieriger das bei fortschreitender Erkrankung wird, desto mehr ziehen sich die Betroffenen in die Isolation zurück. Manchmal vermeiden auch Angehörige gemeinsame Kontakte und verschweigen die Krankheit im Verwandten- und Bekanntenkreis. Verstärkt wird die Scham durch ein weit verbreitetes Menschenbild, das geistige Leistungen wertschätzt. 

Selbstbestimmt Leben dank Offenheit

Gehen diese verloren, wird es für die Betroffenen und ihre Angehörigen umso schwieriger, offen über die Demenzerkrankung zu reden. Dabei ist dieses Outing eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Menschen mit Demenz so lange wie möglich selbstbestimmt leben können. Denn dafür sind sie zwingend auf Hilfe angewiesen. Sich zu outen, kann grosse Erleichterung bringen.

Menschen mit Demenz brauchen Hilfe. Und nur, wenn sie offen zu ihrer Krankheit und den damit verbundenen Defiziten stehen, können sie diese Hilfe bekommen und mit Verständnis für ihre Situation rechnen. Wenn Verwandte, Freunde, Kollegen, Nachbarn und Bekannte von der Erkrankung wissen, lassen sich Missverständnisse vermeiden, etwa wenn die Menschen mit Demenz Namen, Verabredungen oder Geburtstage vergessen. 

Das sind die Vorteile eines Outings bei Demenz

  • Der Druck, Defizite zu verbergen und sich für Fehlleistungen zu schämen, wird kleiner oder fällt ganz weg.
  • Mehr Sicherheit und soziale Teilhabe im Umfeld/Lebensraum, da Menschen mit Demenz im Alltag (Einkaufen, Orientierung etc.) unterstützt werden.
  • Die Bezugspersonen können sich über die Krankheit und ihre Folgen informieren (zum Beispiel ein Buch lesen über Validation, Lernvideos schauen oder Referate besuchen). Wer mehr weiss, kann besser und verständnisvoller helfen!
  • Die allermeisten Menschen sind verständnisvoll und hilfsbereit, wenn sie wissen, dass ihr Gegenüber krank ist. Wenn die ungewöhnlichen Verhaltensweisen nicht eingeordnet werden können, entsteht Verunsicherung und Ablehnung.
  • Es kann schon früh ein Netzwerk entstehen, das den Betroffenen und die Hauptbetreuungsperson(en) unterstützt. Die Aufgaben und Belastungen sind auf mehrere Schultern verteilt.

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  • Das Netzwerk ist auch hilfreich, wenn es bei fortschreitender Krankheit zu sehr schwierigen Situationen kommt. Hilfe und Entlastung sind schneller organisiert.
  • Bei jungen Menschen mit Demenz ist ein offener Umgang besonders wichtig, weil speziell ihnen Stigmatisierung droht. Wenn die Betroffenen noch ins Familien- und Berufsleben eingespannt sind, kann es zu sehr belastenden Situationen kommen (dauernde Überforderung, andere machen sich lustig oder mobben).
  • Stefan Basig, dessen Frau Fabienne mit 42 an einer Demenz erkrankte, sagt: «Verheimlichen kommt nicht gut an – die Leute reden so oder so darüber. Die Menschen in unserem Umfeld sollten wissen, dass Fabienne nicht verrückt, sondern krank ist.» 

So kann ein Outing bei Demenz gelingen

  • Berücksichtigen Sie bei Ihrem Vorgehen die Persönlichkeit des Betroffenen und die Familienkultur. Ein allgemein gültiges Vorgehen gibt es nicht, jeder Mensch und jede Familie geht anders mit der Erkrankung um. Bleiben Sie authentisch.
  • Reden Sie im Familienrat und/oder mit ihren besten Freunden darüber, in welcher Form das Outing geschehen soll (persönliche Gespräche, Telefone, Briefe, E-Mail), welche Personen zu welcher Zeit informiert werden und wer was macht. 
  • Im Frühstadium der Krankheit (empfehlenswert) kann der an Demenz Erkrankte das allermeiste selber bestimmen und ausführen. Falls die Krankheit schon fortgeschritten ist, wird er in den Prozess einbezogen und übernimmt zumindest einen Teil der Aufgaben. 

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  • Ein Outing ist kein leichter Schritt und kostet Überwindung. Die dazu nötigen Schritte brauchen Zeit und Ruhe. Falls der Betroffene kein Outing will, können Sie ihn vielleicht von seinen Vorteilen überzeugen.
  • Machen Sie eine Liste der Personen, die Sie auf welche Weise informieren wollen. Bei nahen Angehörigen und engen Freunden empfiehlt sich ein persönliches Gespräch, sie sollen es auch als erste wissen. Bei Personen mit weniger engen Kontakten ist vielleicht ein Brief die richtige Wahl.
  • Denken Sie auch an Läden, Restaurants, Institutionen, Banken etc., in denen der Betroffene gerne verkehrt. Meist sind die Mitarbeitenden gerne bereit, Menschen mit Defiziten zu unterstützen.
  • Teilen Sie den Verwandten, Bekannten, Nachbarn etc. mit, was der Betroffene noch kann und gerne macht. Machen Sie konkrete Vorschläge, wie zum Beispiel: «Er freut sich über eure Begleitung bei Sport und Spiel.» Oder: «Sie spricht zwar kaum mehr, kommt aber gerne mit euch auf einen Spaziergang.»
Quelle Promenz/YouTube

Für viele Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen ist es zudem hilfreich, sich einer Selbsthilfegruppe anzuschliessen. Der Austausch mit Betroffenen kann entlastend sein. Das Outing mag Überwindung kosten, doch im Gegenzug trägt es dazu bei, dass sie als Menschen wahrgenommen werden, die trotz ihrer Defizite gesellschaftliche Wertschätzung erfahren. 

➔ Hier geht es zur Broschüre (pdf) «Was kann ich tun» der deutschen Alzheimer-Gesellschaft

➔ Hier geht es zu einem Artikel, der an konkreten Beispielen beschreibt, wie der öffentliche Umgang mit Menschen mit Demenz verbessert werden kann

➔ Wendy Mitchell; Der Mensch, der ich einst war; Mein Leben mit Alzheimer, Rowohlt, 2019

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