Natur
Menschen mit Demenz reagieren stark auf Sinneseindrücke. Sehen, hören, riechen, fühlen und schmecken: Naturerlebnisse beleben und fördern ihre Lebensqualität.
«Alles ist Natur»: Auch so lässt sich die Welt verstehen. Der Naturalismus, eine Philosophie-Richtung, deren Wurzeln in die griechische Antike reichen, betrachtet die Welt aus dieser Perspektive. Andere Lehrmeinungen sagen: Natur ist das, was nicht vom Menschen geschaffen wurde.
Wo also beginnt Natur, wo endet sie? Was bedeutet sie für den Menschen? Drei von vier Kindern, die heute zur Welt kommen, werden bis 2050 in Städten leben. Seit Mitte des vorigen Jahrhunderts wird der Mensch zunehmend urbaner. Sind Städte Natur? Darüber kann man streiten. Was man jedoch sieht, ist, was Städte für den Mensch bedeuten, neben vielen Vorteilen: Sie können anstrengend sein.
Stress und Depressionen nehmen zu, wenn sich das Leben zwischen Beton abspielt, weit weg von Wiesen und Wäldern, Tieren und Pflanzen, Meeren oder auch Bergen. Zu wenig Natur kann krank machen.
Der Mensch braucht das Grün, diese andere Weite, in die er sich einbetten kann, mitsamt ihrem natürlichen Rhythmus von Tag und Nacht und dem Wechsel der Jahreszeiten. Der Aufenthalt in der Natur regt alle Sinne an. Er wirkt gleichzeitig aktivierend und entspannend. Von dieser Wirkung profitieren auch Menschen mit Demenz.
Obwohl ihre geistigen Fähigkeiten allmählich nachlassen, bleiben die sinnliche Wahrnehmungskraft, Gefühle wie Freude und Begeisterung und das Bedürfnis nach (Natur-)Kontakt lange erhalten. Wenn es gelingt, an diese Ressourcen und Interessen anzuknüpfen, fördert dies das individuelle Wohlbefinden und die Lebensfreude von Menschen mit Demenz.
Aufenthalte in der Natur haben viele positive Effekte:
- Förderung der psychischen und physischen Gesundheit
- Vermeidung von sozialer Isolation, Förderung der Teilhabe
- Erhalt der Mobilität und Selbstständigkeit
- Stärkung durch Sinnesanregungen, Erfolgserlebnisse und Austausch
- Bewegung als persönliche Ressource wahrnehmen
- Sensibilisierung für die biologische Vielfalt
- Stärkung der Beziehung zu anderen Menschen durch gemeinsame Erlebnisse
- Anknüpfen an gemachte Erfahrungen, Wecken von Erinnerungen
Vom Waldbaden und therapeutischen Landschaften
Mehrere Konzepte bauen in den vergangenen Jahren auf diesen heilsamen Effekt der Natur. Populär geworden ist das sogenannte Waldbaden. Shinrin Yoku, Japanisch für «Baden im Wald», wurde in den 1980er-Jahren in Japan entwickelt. Forscher hatten festgestellt: Durch zwei tägliche Waldbäder à 40 Minuten kann der arterielle Blutdruck gesenkt werden.
Müdigkeit und Stress nehmen deutlich ab. Mittlerweile ist Shirin Yoku in Japan fester Bestandteil des staatlichen Gesundheitssystems. Dort gibt es Waldbaden sogar auf Rezept. In Europa kommt diese Entwicklung zeitverzögert an.
Erste Kliniken nehmen das Waldbaden mit in ihre therapeutischen Konzepte auf, vereinzelt gibt es Waldbaden-Angebote für dementiell Erkrankte. Studienergebnisse sowie ärztliche Empfehlungen zu diesem Thema stehen hierzulande bisher jedoch noch aus.
Einige Anregungen zum Waldbaden:
- Den Wald in seiner ganzen Dimension erleben. Innehalten, in die durch die Baumkronen blitzende Sonne blinzeln und sich vorstellen, wie sich die Lungen mit Terpenen, den Botenstoffen von Bäumen, füllen.
- Den Sehsinn schärfen, indem man eine Farbkarte zieht und damit durch den Wald schlendert. Egal mit welcher Farbe im Fokus, man wird sie in der Natur wiederfinden.
- So macht man ein Waldtattoo: Eine fetthaltige Creme auf die Haut auftragen und dann der Kreativität freien Lauf lassen. Man staunt, was man auf dem kleinsten Stück Waldboden für Schätze ausmacht, z.B. aufgeknackte Eicheln, Bucheckern, Tannennadeln, Blätter und eine kleine Blüte. Nach ausgiebiger Betrachtung des Waldtattoos findet man ein schönes Plätzchen auf, wo das Waldtattoo dem Boden zurückgegeben wird.
- Beim nächsten Waldspaziergang einfach mal ein paar Schritte vom Weg abkommen und einen Baum zum Umarmen finden – ein erdendes Erlebnis.
- Zum Abschluss des Waldbades gemeinsam ein Herz aus Fundstücken aus dem Wald für den Wald legen ist ein wenig kitschig und tut dabei sehr gut.
Eine andere Entwicklung von Naturangeboten zeigen die «Therapeutischen Landschaften» auf. Der Begriff wurde zu Beginn der 1990er-Jahre durch den Medizingeographen Wilbert Gesler geprägt. Dem Konzept liegt die Annahme zugrunde, dass Landschaften eine Bedeutung für die menschliche Gesundheit und das Wohlbefinden haben können.
Dabei muss es sich keineswegs um «wilde Landschaften» handeln (wie den natürlich gewachsenen Wald). Auch ein von Menschen angelegter Heilgarten kann eine solche therapeutische Landschaft sein.
Heilende Gärten entstehen häufig in Krankenhausparks, bei Alten- und Pflegeheimen oder anderen Versorgungseinrichtungen. Durch die fremde Umgebung und die ungewohnte Situation kann es dort bei Patientinnen und Patienten zu Stress und Ängsten kommen, die dem Heilungsprozess entgegenwirken.
Studien haben gezeigt, dass therapeutische Landschaften Symptome wie Angst, Stress oder depressive Stimmung reduzieren können. Gut strukturierte Heilgärten passen sich an die Bedürfnisse der dementiell Erkrankten an, etwa mit nur leicht gewundenen Pfaden, um die Orientierung zu erleichtern. Oder mit dunklen Gehwegoberflächen, um die Augen nicht zu blenden.
➔ Hier gibt’s mehr Infos über heilende Gärten
Alle Pflanzen im Heilgarten sollten ungiftig sein, da Demenzkranke dazu neigen, Dinge in den Mund zu nehmen. Solche Gärten können helfen, die Lebensqualität der Patienten zu verbessern, ohne sie zu beunruhigen.
Green Care – Auf Bauernhöfen alt werden
Naturgestützte Therapie von Menschen mit Demenz ist ein junges Angebot in der Pflege. Der Oberbegriff für solche Angebote lautet «Green Care». Damit werden Konzepte umschrieben, die den Menschen und sein Wohlbefinden in den Mittelpunkt stellen.
Green Care-Angebote fördern die körperliche und psychische Gesundheit der Menschen und eröffnen neue Möglichkeiten für Erziehung und Ausbildung. Hierfür nutzten sie Natur, Pflanzen, Tiere und alle den Höfen zur Verfügung stehenden Mittel und Möglichkeiten.
Solche Konzepte sind auch deshalb nötig, weil die Anzahl der Menschen mit Demenz weiter wächst und die bisherigen Pflegeangebote an ihre Grenzen bringt. Für eine würdevolle und selbstbestimmte Versorgung braucht es neue Konzepte. Ein alternatives Angebot sind Bauernhöfe für Menschen mit Demenz.
In ersten Studien – beispielsweise aus Norwegen und den Niederlanden – bescheinigen professionell Pflegende einer Versorgung von Menschen mit Demenz auf Bauernhöfen positive Effekte. Forschungsergebnisse weisen auf eine höhere Lebensqualität der Bewohner im Vergleich zu traditionellen Langzeitpflegeeinrichtungen hin. Bauernhof statt Pflegeheim? Das kann ein Konzept sein.
➔ Green Care an der Hochschule für Agrar- und Umweltpädagogik in Wien
Doch: «Green Care Initiativen sind kein Ersatz für andere medizinische, soziale oder pädagogische Konzepte, und ganz sicherlich kein Allheilmittel», heisst es auf der Homepage der Wiener Hochschule für Agrar- und Umweltpädagogik, die sich diesem Thema gewidmet hat. «Der persönliche Wunsch und die individuellen Möglichkeiten einer Person müssen immer respektiert werden. Nur so ist Förderung nach Mass im Sinne von Green Care möglich.»
Links und Literatur
➔ Ulrike Kreuer, Gartengestaltung für Menschen mit Demenz, Haupt Verlag, 2020
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