Ethik
Die Betreuung und Pflege von Menschen mit Demenz stellt Angehörige und Fachleute vor schwierige ethische Fragen. Das Mass allen Handelns ist die Lebensqualität des Kranken.
Ethik ist die Lehre von der Moral und ein Teilbereich der Philosophie. Sie ist kein Naturgesetz, sondern basiert auf menschlichen Regelsystemen und Überlegungen. Darunter fallen gesellschaftliche Übereinkünfte oder auch religiöse Lehren.
Aufgrund der Vielzahl der Regelsysteme können Menschen unterschiedliche ethische Ansichten vertreten – und dadurch in Konflikte geraten. Wie findet man hier eine Basis?
Der Philosoph und Ethiker Klaus Peter Rippe rät von Religion als Grundlage für ethische Entscheidungen ab: «Eine Moral, die das Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen Glaubensrichtungen ermöglichen soll, darf keine religiöse Moral sein. Es ist sinnvoller, hier von jenen Interessen und Gütern auszugehen, welche Menschen, egal was sie glauben, für schützens- und erstrebenswert halten.»
Ethik wird auch als «praktische Philosophie» verstanden, weil sie sich ganz konkret mit dem menschlichen Handeln auseinandersetzt. Im Fall von Demenz bedeutet Ethik häufig eine Güterabwägung zwischen sehr unterschiedlichen Interessen.
Wenn es beispielsweise um Themen wie Zwangsernährung, Ruhigstellung oder das Recht auf einen selbstbestimmten Tod geht, sehen sich Familien und Freunde, Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte herausgefordert, widerstreitende ethische Interessen zu bedenken.
➔ Hier geht’s zum Demenz-Ethik-Blog «Darf man das?» von Nina Streeck
Das trifft besonders dann zu, wenn Menschen mit Demenz sich kaum noch artikulieren und orientieren können, wenn man also an ihrer Stelle entscheiden muss. Das Mass allen Handelns ist dabei die Lebensqualität des oder der Betroffenen.
Theorie der ethischen Grundprinzipien
Um in solchen Situationen eine gute Entscheidung treffen zu können, ist es hilfreich, die vier ethischen Grundprinzipien «Nichtschaden, Autonomie, Fürsorge und Gerechtigkeit» zu kennen und anwenden zu können. Hier sind sie kurz erklärt:
- Das Freiheits- oder Schadensprinzip: Das Freiheitsprinzip basiert auf Lehren des Philosophen John Stuart Mill. Er formulierte dazu 1859: «Der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmässig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten.» Dieses Prinzip verbietet es also, andere willentlich oder auch nur fahrlässig zu schädigen.
- Das Autonomie-Prinzip: Der Mensch hat ein Recht auf Selbstbestimmung und darauf, das Leben eigenverantwortlich und der besonderen Persönlichkeit gemäss zu führen. Das Recht auf Autonomie schliesst ein, Entscheidungen zu treffen, die anderen unvernünftig erscheinen. Das Prinzip der Autonomie setzt allerdings voraus, dass ein Mensch fähig ist, sich über einen Sachverhalt angemessen zu informieren, die Situation und die Folgen ihrer Handlung zu verstehen und frei – ohne inneren und äusseren Zwang – zu handeln.
- Das Fürsorge-Prinzip: Das Fürsorge-Prinzip ist sozusagen der Gegenspieler des Autonomie-Prinzips. Es kennzeichnet die Verpflichtung, andere vor Schaden zu bewahren und für sie zu sorgen. Fürsorge bedeutet immer auch: Ein anderer Mensch wird in seiner Autonomie beschnitten. Sie kann nur glücken, wenn die fürsorgende Person weiss, was für den anderen Mensch gut ist.
- Das Gerechtigkeits-Prinzip: Gerechtigkeitsfragen stellen sich insbesondere bei der Verteilung von Gütern und Lasten. Gerechtigkeit fordert dazu auf, diese Verteilung an Kriterien auszurichten, die gegenüber allen gerechtfertigt werden können.
Ethische Grundprinzipien in der Praxis
Bei der Betreuung und Pflege von Menschen mit Demenz stellen sich immer wieder ethische Fragen. Sollen wir zum Beispiel den Bewegungsdrang eines sturzgefährdeten Menschen einschränken, indem wir ihn einschliessen oder mit Medikamenten sedieren? Sollen wir ihn, der das wandern immer geliebt hat, allein nach draussen lassen, wenn er den Heimweg nicht mehr finden könnte?
Ernährungsfragen sind ein wiederkehrendes Thema im Umgang mit Demenzkranken. Sie spitzen sich zu, wenn die oder der Betroffene das Essen und Trinken verweigert. Und sie gipfeln in der Entscheidung für oder gegen das Legen einer Magensonde.
In solchen Momenten müssen sich Angehörige, Ärzte und Pflegende fragen, ob sie wohl auch im Sinne des Betroffenen richtig handeln. Sie müssen gemeinsam abwägen, welcher Nutzen und welcher Schaden für den Betroffenen damit verbunden ist und ob diese Massnahme dem Willen des Betroffenen entspricht.
Das Für oder Wider ist keine leichte Entscheidung, denn hier stehen sich zwei ethische Grundsätze gegenüber: Jeder Mensch hat das Recht zu leben und damit auch das Recht auf Nahrung. Und jeder Mensch hat das Recht, zu sterben. In beiden Fällen gilt: Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Die Entscheidung für oder gegen das Legen einer Sonde sollte deshalb nicht durch eine einzelne Person erfolgen. Der bessere Weg ist die gemeinsame Beratung oder einer Konferenz aller beteiligten Personen. In einer Empfehlung der Deutschen Alzheimer Gesellschaft heisst es dazu: «Der Einsatz einer Magensonde könnte bei Menschen mit leichter bis mittlerer Demenzerkrankung einen erkennbaren Nutzen haben.
Für schwere Demenzen gibt es keine Belege, dass die Anlage einer Magensonde das Überleben verlängert oder die Lebensqualität verbessert. Zudem werden zuweilen Fixierungsmassnahmen zur Sicherung der Sonden durchgeführt, die eine zusätzliche Belastung für die Patienten darstellen.»
Das dreistufige Modell der ethischen Entscheidungsfindung
Um eine ethische Entscheidung treffen zu können, schlägt Klaus Peter Rippe ein dreistufiges Modell vor:
- Schritt 1 fragt: «Wer hat das letzte Wort?» Liegt die letztliche Entscheidung beim Betreuten, dann haben alle anderen dies zu respektieren – und rücken mit ihren Meinungen in die beratende oder unterstützende Rolle.
- Schritt 2 prüft: «Stehen Rechte anderer auf dem Spiel?» Die Freiheit des einen endet bekanntlich an den Grenzen des anderen. Auch wenn Pflegebedürftige das letzte Wort haben, dürfen dadurch nicht die Rechte Dritter verletzt werden. Das wäre zum Beispiel der Fall, wenn ein Pflegebedürftiger bis zum Schluss daheimbleiben möchte, obwohl seine Pflege die Familie über die Grenzen hinaus belastet.
- Schritt 3 lautet: «Führe eine ethische Güterabwägung durch.» Hierzu führt Rippe aus: «Dieser dritte Schritt soll nur unternommen werden, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind. Erstens müssen Pflegende und Betreuende das letzte Wort haben. Zweitens muss es um eine Pflegemassnahme gehen, die auf den ersten Blick moralisch unzulässig ist – wie etwa Zwang oder Freiheitseinschränkungen.»
Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung
Das Recht auf Selbstbestimmung zählt zu den ethischen Grundprinzipien. Die medizinische Ethik ist jedoch nicht immer mit dem Autonomie-Prinzip vereinbar: Während Ärzte das Leben möglichst lange erhalten möchten, wünschen sich Betroffene in vielen Fällen ein schnelles Ende des Leidens.
Ein Wegweiser in diesem Konflikt kann eine Patientenverfügung sein. Allerdings nur dann, wenn sie eindeutig und juristisch unanfechtbar formuliert ist. Unklare Patientenverfügungen stellen alle Beteiligten vor schwere Entscheidungen, denn dann prallen die Prinzipien der Fürsorge und der Autonomie aufeinander.
Die Konflikte beginnen jedoch schon an früherer Stelle – dann, wenn Gedächtnisstörungen eintreten und kognitive Funktionen beeinträchtigt sind. In solchen Situationen kann eine Vorsorgevollmacht helfen. Damit legt man beizeiten jene Vertrauenspersonen fest, die im Fall einer Krankheit wie Demenz die Geschäfte übernehmen und einen durch diese Zeit hindurch begleiten.
Auch hier gilt: Damit eine solche Vollmacht greift, muss sie eindeutig schriftlich formuliert sein. Das Internet bietet entsprechende Mustervorlagen, die jedoch nicht leicht zu verstehen sind. Notare helfen dabei, solche Vollmachten wie auch Patientenverfügungen anzufertigen.
Links und Literatur
➔ Michael Schmieder, Uschi Entenmann, Dement, aber nicht bescheuert, Ullstein, 2015
➔ Martina Schmidhuber, Ein gutes Leben für Menschen mit Demenz, LIT Verlag, 2020
➔ Ina Herbst, Demenz und das Recht auf Nichtwissen, Brill Mentis Verlag, 2021
Entdecke unsere weiteren Plattformen:
demenzworld
Alles für das Leben mit Demenz: Verschaffe dir einen Überblick über die demenzworld und entdecke unser demenznavi.
demenzjournal
Interviews, Reportagen, Blogs und mehr: demenzjournal versorgt dich seit 2016 crossmedial mit Demenzwissen.
demenzmeets
Triff Angehörige, Betroffene und Fachpersonen zu einem Austausch auf Augenhöhe und verbringe »leichte Stunden zu einem schweren Thema«.
demenzforum
Tausche dich in unserem sicheren Online-Forum vertrauensvoll zum Alltag mit Demenz aus und erhalte rasch Antworten.