Angehörige
Demenz kann Trauer und Konflikte auslösen – aber auch Beziehungen vertiefen. Angehörige sehen sich mit komplexen Fragen und Aufgaben konfrontiert. Dabei sind sie angewiesen auf ein unterstützendes Umfeld und Entlastungsangebote.
Erkrankt ein Partner an Demenz, ist das nicht sofort erkennbar. Der Kranke hat vermutlich schon lange vorher bemerkt, dass etwas in seinem Kopf nicht stimmt. Er versucht, es so lange wie möglich zu verbergen; bis es nicht mehr geht, weil die Defizite auffällig werden. Er nimmt zum Beispiel die falsche Autobahnausfahrt oder erkennt eine gute Bekannte nicht mehr. Angehörige von Menschen mit Demenz befinden sich von nun an in einem Wechselbad der Gefühle: Sie fühlen sich stark und schwach zugleich, empfinden Zuneigung und Abneigung, sie trauern und haben gleichzeitig den Wunsch nach Freiheit, nach einem Leben ohne Belastungen.
Hier geht es zum Artikel «Nach der Diagnose» von Irene Bopp-Kistler, die bis 2021 leitende Ärztin war an der Memory Clinic im Waidspital in Zürich. Sie und ihre Mitarbeitenden diagnostizieren jährlich bei etwa 400 Menschen eine Demenz. Sie beschreibt, was die Krankheit Demenz mit Beziehungen macht:
Beide Seiten, der Mensch mit Demenz und seine Angehörigen, haben Angst vor dem, was noch auf sie zukommt. Instinktiv übernimmt der Gesunde Bereiche, die bisher nicht zu seinem Revier gehörten. Er hilft, die zunehmenden Defizite des Kranken auszugleichen und muss sich täglich mit neuen Komplikationen auseinandersetzen.
- Der Kranke verliert die Sprache, kommunizieren wird schwierig.
- Der Schlafrhythmus verändert sich. Der Schlafentzug ist vor allem für den Angehörigen eine grosse psychische und physische Belastung.
- Möglich, dass der Mensch mit Demenz seine Angehörigen nicht mehr erkennt.
- Mitunter beschimpft und beschuldigt er den Partner zu Hause oder in der Öffentlichkeit.
Elf wichtige Tipps für Angehörige von Menschen mit Demenz
Gabriele Wirz von der Universität Jena hat ausführlich über die Situation von pflegenden Angehörigen geforscht. Im Rahmen eines Interviews mit demenzjournal hat sie die aus ihrer Sicht wichtigsten Tipps verraten:
- Auf Selbstfürsorge achten: Pflegende sollten sich immer wieder fragen: Wo kann ich mich entpflichten? Wo sind für mich Auszeiten denkbar, in denen ich mit einer Freundin einen Kaffee trinke oder spazieren gehe? Sie sollten gezielt Pausen einplanen, auch wenn sie glauben, dafür keine Zeit zu haben. Schon eine kurze Pause kann helfen, den eigenen Akku ein Stück weit aufzuladen.
- Sich selbst Anerkennung geben: Menschen mit Demenz können Anerkennung in der Regel nicht mehr geben, man sollte sie also nicht von ihnen erwarten. Auch von der Familie kommt die gewünschte Wertschätzung manchmal nicht. Mitunter haben die Geschwister ein schlechtes Gewissen, weil sie sich zu wenig an der Pflege der Mutter oder des Vaters beteiligen und deshalb das Thema vermeiden. Deshalb sollte man sich als Pflegender selbst immer wieder Anerkennung geben, sich mental oder ganz direkt auf die Schulter klopfen. Auch eine bewusste Belohnung, etwas, das einem Freude macht nach einem anstrengenden Pflegetag, kann helfen.
- Erschöpfungssignale ernst nehmen: Weit über 50 Prozent der pflegenden Angehörigen sind deutlich belastet: Sie leiden unter depressiven Beschwerden, Erschöpfung, Grübeln, Schlafstörungen, Zukunftsängsten, wie es weiter geht, manche haben sogar Suizidgedanken. Ein Alarmsignal ist auch, wenn ich gar nicht mehr weiß, was mir selbst gut tut. Diese Symptome sollten unbedingt ernst genommen werden, auch wenn sie noch nicht stark ausgeprägt sind, damit man als Pflegende gar nicht erst in ein Burnout kommt. Betroffene sollten Unterstützung durch Beratung oder psychotherapeutische Gespräche in Anspruch nehmen, um ausführlich Möglichkeiten der Entlastung und für den Umgang mit belastenden Gefühlen und Gedanken zu finden.
- Geduld trainieren: Wenn eine Person mit Demenz sehr lange braucht, um sich die Jacke anzuziehen oder die Schuhe zuzubinden, sollte man nicht zur Eile antreiben. Angehörige können in der Zeit kleine Übungen für sich machen, etwa leichte Gymnastik- oder Balanceübungen. Auch Atemübungen als kurze Meditation können entlastend sein. Möglicherweise hilft es, den Moment des Wartens umzuinterpretieren: Anstatt mich zu ärgern, dass es nicht vorangeht, kann ich das Warten begrüßen: Da ist sie wieder, meine Zwei-Minuten-Zeit. Mit etwas Training und Regelmäßigkeit werden diese Übungen von vielen Angehörigen als entlastend empfunden.
- Negative Gedanken akzeptieren: Angehörige haben manchmal sehr belastende Gedanken wie »Ach, wenn er doch bald sterben würde!« und schämen sich dafür. Man sollte solche Vorstellungen zulassen – auch viele andere Angehörige haben solche Gedanken. Sie zeigen, wie enorm anstrengend die Situation für die Pflegenden ist, und signalisieren, dass sie unbedingt mehr für sich und ihr Wohlbefinden tun sollten (s. »Auf Selbstfürsorge achten«).
- Mit der eigenen Gereiztheit klarkommen: Pflegende Angehörige sind mitunter gereizt, wenn der erkrankte Partner oder die Mutter immer dieselbe Frage stellt, die eigenen Sachen nicht findet. Hier spielt die Emotionsregulation eine wichtige Rolle: herunterfahren, Distanz zu den eigenen Gefühlen bekommen. Ich kann zum Beispiel kurz aus dem Zimmer gehen, damit sich die Situation nicht hochschaukelt. Oder mir im Bad kaltes Wasser ins Gesicht oder über die Hände laufen lassen.
- Auf Aggressivität reagieren: Manche Menschen mit Demenz werden gelegentlich aggressiv. Dann keine Vorwürfe machen, nicht dagegen argumentieren, das können die Betroffenen nicht verstehen. Wichtig ist es zu deeskalieren, mit einer wohlwollenden Autorität. Ich kann mich aufrecht hinstellen, klar und bestimmt sagen: „So nicht“. Selbst wenn die Worte nicht mehr verstanden werden, kann der Ton eine Menge bewirken. Ich kann eventuell auch aus dem Zimmer gehen, Distanz schaffen, wenn die Situation es erlaubt. Hilfreich ist es, mir die Frage zu stellen, warum der Vater oder der Partner wütend wird. Die Aggression ist kein Angriff auf die pflegenden Angehörigen, sondern eher eine Schutzreaktion, weil die Betroffenen mit ihren belastenden Gefühlen – etwa Angst, Überforderung, Hilflosigkeit – nicht zurechtkommen.
- Mit Ekelgefühlen umgehen: Menschen mit Demenz leiden ab einem bestimmten Krankheitsstadium unter Inkontinenz. Der Umgang damit ist für Angehörige besonders belastend. Praktische Maßnahmen können eventuell Erleichterung verschaffen, etwa einen Duft sprayen, Handschuhe anziehen. Wenn ich die Aufgabe bewältigt habe, sollte ich mir etwas gönnen. Fühle ich mich außerstande, den Vater oder den Partner zu waschen und Toilette/Bad zu säubern, darf ich mir eingestehen, dass hier meine eigene Grenze ist und jemand anderes aus der Familie oder ein Pflegedienst übernehmen sollte. Ist eine Stuhlinkontinenz sehr schwerwiegend, ist die Pflege zu Hause vielleicht nicht mehr zu leisten.
- Einfühlung üben: Menschen mit Demenz sind manchmal auch sehr ruhebedürftig, wollen ein Nickerchen machen. Manche Angehörige denken, die Betroffenen beschäftigen zu müssen. Es kann jedoch auch sein, dass ein Ausruhen wichtig ist, weil viele Reize auf die Betroffenen einströmen, die sie nicht mehr verarbeiten können. Pflegende Angehörige sollten also möglichst einfühlsam auf die Bedürfnisse der Mutter oder des Partners eingehen.
- Pflegedienste und Ehrenamtliche einbeziehen: Die Tagespflege, wo Menschen mit Demenz mehrmals die Woche hingehen können, ist oft entlastend, weil Angehörige mehr Zeit für sich haben. Wenn sie zögern, raten wir dazu, es auszuprobieren, zu experimentieren. Unter Umständen ist der erkrankte Partner froh, ein bisschen Abwechslung zu haben. Ambulante Pflegedienste sind ebenfalls zu empfehlen, auch wenn sie vielleicht manche Abläufe durcheinanderbringen. Auch ehrenamtliche Helferinnen und Helfer können einbezogen werden.
- Die gemeinsame Beziehung stärken: Freudvolle Erfahrungen sind bedeutsam, indem man beispielsweise gemeinsam etwas Schönes unternimmt. Das kann, wenn das noch möglich ist, ein Spaziergang oder ein kleiner Ausflug sein. Oder man schwelgt in schönen gemeinsamen Erinnerungen, etwa an eine Reise, und schaut sich zusammen die Urlaubsfotos an. Auch Musik kann eine wichtige Rolle spielen, viele Studien zeigen, dass sie das Wohlbefinden von Menschen mit Demenz erheblich steigert. Die individuelle Lieblingsmusik kann für Glücksmomente sorgen und auch gemeinsame freudvolle Momente schaffen.
Was ist, wenn es daheim nicht mehr geht?
Wenn der Demenzkranke immer mehr Defizite hat, beginnt oft die Überforderung. Sehr belastend für die Angehörigen sind zum Beispiel Inkontinenz, Aktivität in der Nacht oder Wesensveränderungen. Es entstehen Scham, Ekelgefühle, Verzweiflung – unabhängig davon, ob die Frau ihren Mann pflegt oder der Mann seine Frau. Nun stellt sich die Frage nach dem Eintritt in ein Heim. Sie ist verbunden mit hoher Anspannung. Wie reagiert der Partner? Können wir das finanzieren? Was geschieht mit ihm dort? Ist jetzt ganz sicher der richtige Moment? Was meinen die anderen Mitglieder der Familie?
Der Umgang mit diesen Gedanken ist schwierig. Denn der Heimeintritt ist auch eine Auseinandersetzung mit dem Heimaustritt: dem Tod. Das spüren die Beteiligten. Die Vorstellung, dass heute Abend mein Ehemann, meine Frau zum letzten Mal neben mir einschlafen wird, scheint unerträglich.
Warum der Wechsel ins Pflegeheim kein Abschieben ist
Der Kranke kann nur dann optimal betreut werden, wenn der Gesunde nicht ständig überlastet ist. Chronische Überforderung führt zu Ungeduld, Ermahnungen, seelischen und sogar körperlichen Bestrafungen. Statistiken zeigen auch, dass es im häuslichen Umfeld zu mehr Übergriffen kommt als in Heimen. Dem Erkrankten geht es womöglich besser, wenn er nicht mehr daheim wohnt, sondern im Heim, und der Partner ihn besucht. Früh informieren und diagnostizieren ist in jedem Fall wichtig – damit es nicht Notlösungen braucht, wenn die Situation eskaliert. Auch der Austausch in Angehörigengruppen kann helfen.
Wer entscheidet im Namen von Menschen mit Demenz?
Oftmals begleiten und besuchen Angehörige ihre demenzkranken Partner auch im Heim liebevoll, halten Kontakt mit den Pflegekräften und der Heimleitung, finden bei auftretenden Fragen einen gemeinsamen Weg. Was passiert indes, wenn Differenzen auftreten? Es kann etwa die Frage aufkommen, ob man Medikamente geben darf, obwohl sich der Patient vor seiner Erkrankung gegen die Schulmedizin geäussert hat. Oder wenn Angehörige Psychopharmaka ablehnen, obwohl sie die Lebensqualität eines Menschen verbessern könnten. Sind Angehörige immer die richtigen Zuständigen für Menschen mit Demenz? Was passiert, wenn sie untereinander zerstritten sind und nicht das Wohl des Demenzkranken im Blick haben?
Wenn in Konfliktsituationen Recht und Gesetz bemüht werden müssen, sind gute Lösungen meist schon ausser Reichweite. Dann geht es nur noch um die Frage, wer Recht hat, und nicht, was gut für den Patienten ist.
Beispiele:
- Ein Ehepaar lebt seit Jahren getrennt, ist aber nicht geschieden. Sie haben keine Kinder, aber ein gut gehendes Geschäft, das beiden gemeinsam gehört. Der Mann möchte seine Frau trotzdem aus einem guten Heim holen und in ein billigeres bringen. Sie kann sich dazu nicht mehr äussern.
- Wenn die demenzkranke Frau immer nach ihrem Ehemann fragt, nach den Wochenenden zu Hause mit blauen Flecken zurückkommt und sie nichts sagen kann oder will: Dürfen die Pflegenden und die Heimleitung Widerstand leisten?
Literatur und Links für Angehörige von Menschen mit Demenz
> Arno Geiger, Der alte König in seinem Exil, Hanser, 2011
> Wendy Mitchell, Der Mensch, der ich einst war. Mein Leben mit Alzheimer, Rowohlt, 2019
> Irene Bopp-Kistler (Hg.), Demenz. Fakten, Geschichten, Perspektiven, Rüffer und Rub, 2016
> Hier geht’s zur Plattform demenzworld, die Betroffene und Angehörige unterstützt
> Hier findest du Adressen von Anlaufstellen, die dir diverse Hilfsangebote vermitteln können
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