Herausforderndes Verhalten
Unruhe, Schreien, Aggressivität von Menschen mit Demenz: Oft stehen Schmerzen, Ängste, Überforderung oder nicht erfüllte Bedürfnisse dahinter. Manchmal müssen es die Betreuenden einfach aushalten.
Der Begriff «Herausforderndes Verhalten» kommt ursprünglich aus der Behindertenhilfe und meint Verhaltensweisen, die aufdringlich, provozierend oder aggressiv sind für andere. Beispiele für herausforderndes Verhalten im Umgang mit Demenz sind ständiges Rufen oder Schreien, Weglaufen, das Verweigern von Essen, Medikamenten oder Pflege.
Auch enthemmtes Verhalten zählt dazu: etwa, wenn Demenzkranke sich entkleiden, mit Kot schmieren oder in die Ecke urinieren. Herausfordernd – im Sinne von belastend – können auch die stillen Handlungen eines Betroffenen sein: Auch Apathie und Teilnahmslosigkeit zählen zu den herausfordernden Verhaltensweisen.
➔ «Bedürfnisorientierung ist der Schlüssel» – hier finden Sie einen guten Einstieg ins Thema
Die Wissenschaft unterscheidet zwischen extrinsisch und intrinsisch motiviertem Verhalten. Bei extrinsisch motiviertem Verhalten spielen äussere Ursachen eine Rolle – beispielsweise ein unruhiges Umfeld. Oder eines, das als zu laut, zu warm oder zu kalt empfunden wird. Oder es gibt Menschen im Umfeld, die einem Demenzkranken etwas gegen seinen Willen aufzwingen, die beleidigend wirken.
Dem gegenüber steht das intrinsisch motivierte Verhalten. Hier geht es um nicht erfüllte Bedürfnisse, in deren Folge sich Schmerzen, Hunger oder Durst einstellen. Auch die Tatsache, dass man die Nacht zuvor schlecht geschlafen hat oder eine beginnende Krankheit fühlt, zählt zu dieser Kategorie.
Gerade Menschen mit Demenz haben ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit. Stress und Zeitmangel können deshalb destruktive Handlungen verstärken. In ihrem Buch «Herausforderndes Verhalten bei Menschen mit Demenz verstehen» benennt das Autoren-Team Sabine Bartholomeyczik, Margareta Halek und Daniela Holle folgende Ursachen für herausforderndes Verhalten:
- Verbale Verhaltensauffälligkeiten hängen eher mit Unbehagen, Schmerz oder Alleinsein zusammen
- Aggressives Verhalten tendiert dazu, eher während der Körperpflege aufzutreten, wenn der Patient sich bedrängt fühlt oder die Umgebung als unbehaglich empfunden wird
- Agitiertheit (krankhafte Unruhe) entsteht eher bei chemischen oder physikalischen Fixierungen
Doch welche Ursache löst konkret welches Verhalten aus? Es braucht Zeit, das herauszufinden. Meist hilft nur Ausprobieren. Konkret bedeutet das: Als Angehörige oder Pflegekraft hat man eine Vermutung und baut darauf ein Angebot auf oder verändert eine äussere Bedingung – und schaut, wie die oder der Demenzkranke darauf reagiert.
Ein anerkanntes Verfahren, um unbefriedigte Bedürfnisse systematisch abzuklären, ist die «Serial Trial Intervention» (STI). Strukturiert wird hier die Suche nach den Gründen für das herausfordernde Verhalten aufgebaut.
- Im ersten Schritt geht es darum, körperliche Bedürfnisse einzuschätzen. Das können Schmerzen, Hunger, Durst oder gesundheitliche Veränderungen sein.
- Im zweiten Schritt werden die affektiven Bedürfnisse betrachtet, etwa umgebungsbedingter Stress oder fehlende menschliche Nähe.
- Lässt sich durch die ersten beiden Schritte das Verhalten nicht deutlich verbessern, folgt der dritte Schritt: Hier werden Angebote wie Massagen und Berührung oder Snoezelen empfohlen – letzteres ist ein Phantasiewort aus kuscheln und dösen und meint ein spezielles Entspannungskonzept.
Wenn all diese Schritte nicht greifen, kann auf Verdacht ein Schmerzmedikament verabreicht werden. Wenn sich dadurch auch keine Verhaltensänderung zeigt, schlägt das Konzept als letzten Schritt die versuchsweise Gabe eines Psychopharmakons vor oder eine neue Betrachtung der Gesamtsituation im Team.
Natürlich spielen in der Pflege auch Sympathien und Antipathien eine Rolle. Bei Menschen mit Demenz kann es vorkommen, dass andere Menschen einen Trigger darstellen und negative Gefühle oder Empfindungen aus früheren Erfahrungen auslösen. Das können Personen sein, die der Mutter oder Tochter ähneln, oder die an traumatische Erlebnisse erinnern.
Genauso gut kann es sein, dass Menschen per Hautfarbe oder Geschlecht für die Pflege ausscheiden. Der Demenzexperte André Hennig sagt dazu: «Es ist zwar ein Tabu, so etwas zu sagen, aber wenn wir den Anspruch haben, personenzentriert zu pflegen, und die gepflegte Person lehnt eine Pflegeperson aus den ihr eigenen guten Gründen ab, dann ist das aus meiner Sicht zu respektieren.»
➔ Das ganze Interview mit André Henning finden Sie hier
In jüngster Zeit wird diskutiert, inwieweit der Begriff «Herausforderndes Verhalten» überhaupt angemessen und hilfreich umschreibt, was stattfindet, wenn ein Mensch mit Demenz das verursacht, was man vor dem Zeitalter der Selbstoptimierung wohl als «Problem» umschrieben hätte. Begriffe sind mehrdeutig, sie lösen unterschiedliche Emotionen aus.
Der Duden definiert «Herausforderung» als «Aufforderung zum Kampf, Provokation, Anlass, tätig zu werden». Und «herausfordernd» steht dem Duden zufolge für: «durch unverhohlen aufreizende, anmassende Art eine Reaktion verlangend». Die Definitionen legen einen Menschen als Urheber nahe, der eine Absicht verfolgt, und zwar in unangenehmer Art und Weise.
Ist das fair? Ist das zutreffend? Warum nicht die Menschen selbst fragen, wie sie ihr Verhalten nennen wollen? In Kanada hat die Alzheimer´s Association genau das getan. Als Vorschlag kam zurück: «Responsive Behavior», also «antwortendes Verhalten» wäre der bessere Begriff.
Das erinnert an ein Axiom, das der Kommunikationsforscher Paul Watzlawick einmal wie folgt formulierte: «Kommunikation ist kreisförmig.» Sprich: Sie hat keinen Anfang und kein Ende. Auch das so genannte «herausfordernde Verhalten» ist letztlich eine Antwort auf Kommunikation. Vielleicht hilft ein neuer Begriff, diese Perspektive besser einzunehmen.
Links und Literatur
➔ alzheimer.ch hat ein Dossier mit verschiedenen Artikeln zum Thema zusammengestellt
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